RL – Fragen und Antworten: Jimmy Nelson

Der renommierte Fotograf Jimmy Nelson spricht mit Nicole Phelps über sein bahnbrechendes Buch Before They Pass Away, über das Fotografieren der Kampagne der Herbstkollektion Ralph Lauren Collection 2015 und über die Kamera als Kommunikationsmittel.

Der britische Fotograf Jimmy Nelson widmete einen großen Teil seiner Karriere dem Reisen: In den entlegensten Regionen der Welt dokumentierte er Ureinwohner in deren traditioneller Kleidung. In seinem beeindruckenden und aufschlussreichen Buch Before They Pass Away sind drei Jahre seiner Arbeit gesammelt. Es porträtiert so verschiedenartige Völker wie das der Kalam in Papua-Neuguinea, der Chukchi in Sibirien und der Mursi in Äthiopien. Mit seiner Arbeit sorgte Nelson für beispiellose Aufmerksamkeit, nicht zuletzt von der BBC, die für eine neue Dokumentarreihe nun mit ihm zusammenarbeitet. Zusätzlich zu seiner weltweiten anthropologischen Arbeit nimmt der Fotograf hin und wieder Modeaufträge an, darunter die Kampagne für die Herbstkollektion Ralph Lauren Collection 2015, die im Norden Finnlands aufgenommen wurde. Wir haben Jimmy Nelson während seiner Ferien in Ibiza besucht, die er dort mit seiner Frau und seinen drei jugendlichen Kindern verbringt.

RL Magazine: Sie haben mal gesagt, dass Ihre erste Reise durch Tibet zufällig zustande kam. Was war das für eine Erfahrung?
Jimmy Nelson:Das war in den Jahren 1985 und 1986. Für Tibet war die Einreise bereits seit etwa 30 Jahren sehr schwierig. Ich wollte dort einfach nur herumfahren. Mein Ziel war es, einen Ort zu finden, an dem ich mich wohlfühlte. Als Kind hatte ich bereits Zeit in China verbracht, daher wusste ich ungefähr, was [mich erwartete]. Ich hatte damals Probleme damit, dass sich mein Aussehen [aufgrund von Alopezie] veränderte, und wollte anderen jungen Menschen mit Glatze begegnen. Es soll jetzt nicht wie eine lebensverändernde große Reise klingen – ursprünglich wollte ich Tibet gar nicht durchqueren. Ich startete an einem Ende, und der einzige Weg, wieder herauszukommen war eine lange Umfahrung – also wählte ich eine Durchquerung der Länge nach.

Das war sicherlich ein Abenteuer für einen jungen Mann wie Sie. Sie waren erst 17 oder 18 Jahre alt. Kann man sagen, dass Sie dort ihre Leidenschaft fürs Fotografieren entdeckt haben?
Nun, ich machte eine Reise und benutzte eine Kamera, um die Menschen zu dokumentieren, die ich traf. Vorher war ich noch kein Fotograf gewesen, aber ein kreativer Jugendlicher. Dreißig Jahre später würde ich behaupten, dass ich mich [immer noch nicht] als Fotografen sehe. Ich habe kein Interesse an Linsen, an Verschlusszeiten, an Kameragurten. Die Fotografie ist für mich nur ein Mittel zur Interaktion. Ich glaube, dass viele Fotografen sich hinter ihrer Kamera verstecken. Für mich jedoch dient sie als Kommunikationsmittel. 

Ich glaube, dass viele Fotografen sich hinter ihrer Kamera verstecken. Für mich jedoch dient sie als Kommunikationsmittel.

Ihre Kamera ist lediglich Mittel zum Zweck, und dennoch machen Sie so exzellente Fotos. Wie haben Sie gelernt, mit der Kamera umzugehen?
Heute macht jeder Fotos. Die Fotografie ist die erste globale Sprache, die es gab. Die Haustiere meiner Kinder tragen Stirnkameras – GoPros. Wenn die Fotos aber nicht hervorragend sind und nicht mit Leib und Seele aufgenommen wurden, schaut sie sich niemand an. Ich verwende Analogkameras, d. h. Großbildkameras mit 4 x 5 und mit 8 x 10 Zoll. Wenn man ein altmodisches Gerät verwendet, das sehr schwierig und mühselig in der Bedienung und recht teuer ist, muss man sich auf das Eigentliche konzentrieren. Es ist so einfach, den Finger auf den Knopf zu legen und acht Platinen mit 10.000 Bildern zu füllen. Wenn jedoch nur 10 Blatt Film zur Verfügung stehen, achtet man darauf, dass diese zehn Blatt absolut hervorragend genutzt werden.  Statt 1.000 Bilder pro Tag nimmt man dann nur ein Bild in zwei Tagen auf. So gerät man in eine Art visuelle Meditation, in der man Landschaften, Menschen, Licht und Komposition betrachtet. Man weiß vorher, dass es bei der ersten Aufnahme klappen muss. 

Mit den meisten Menschen, die Sie fotografierten, konnten Sie sich sprachlich nicht verständigen. Wie haben Sie eine Beziehung zu diesen Menschen aufgebaut? Wie stellten Sie sicher, dass eine einzige Aufnahme reichte?
Wir alle mögen es, wenn wir gesehen werden, wenn wir Anerkennung finden und auf ein Podest gestellt werden. Um ein Fotomodel für sich zu gewinnen, muss man in erster Linie Verehrung zeigen. Man muss buchstäblich in die Knie gehen, schwitzen, weinen, sich dem Menschen zu Füßen werfen. Wenn Sie das tun, beginnt das Model zu leuchten.

Ihr Buch, Before They Pass Away, erregte viel Aufmerksamkeit. Ich frage mich, ob die Betrachter von Ihren Bildern so bewegt sind, weil die Haltung vieler indigener Völker so unzeitgemäß und eigensinnig wirkt. Wie passen deren Bräuche in die Zukunft?
Ich sage nicht: „Leute, ihr müsst den Rest eures Lebens mit Lendenschurz und Speer dastehen und auf den Sonnenaufgang warten.“ Das wäre sehr herablassend. Stattdessen sage ich: „Ihr habt etwas ganz besonderes. Ihr habt eine besondere Art des Reichtums – einen Reichtum, der genauso viel Wert ist wie das Geld auf unseren Bankkonten.“ Einen Reichtum, der aus dem Kontakt mit uns selbst, mit der Tradition, mit der Körperlichkeit, mit der Natur stammt. Das ist sehr viel wert. Wir müssen die Menschen dazu ermutigen, dies auf irgendeine Weise zu bewahren.

Das stelle ich mir nicht einfach vor.
Es ist im Gegenteil sehr kompliziert. Und vieles was ich sage, ist umstritten. Wir müssen uns jedoch mit diesem Problem auseinandersetzen, da es sich nicht von selbst löst. Durch Zivilisation und Globalisierung werden sie [diese Völker] in den nächsten zehn Jahren komplett verschwinden – das ist meine Prognose.

Ist ein Projekt wie Before They Pass Away jemals abgeschlossen?
Es gibt weltweit eine Rückbesinnung auf alte Stämme und Völker (Retribing), [die mich interessiert]. Es gibt viele junge, moderne Menschen, die zu einer stammes- und kulturbezogenen Lebensweise zurückkehren, und das würde ich gerne dokumentieren.

 
 
 
 

Sie haben bereits sehr früh ihre privaten Arbeiten mit kommerziellen Aufträgen verbunden. Wie beeinflussen diese sich gegenseitig?Mit meinen privaten Arbeiten begann ich im späten Jugendalter. In meinen Zwanzigern arbeitete ich viel im Bereich Kriegsberichterstattung und Armut, aber wie bereits erwähnt war ich kein Journalist. Ich war neugierig, wie diese Menschen lebten, auf die Gefühle, die wir miteinander teilten. Dann traf ich meine Frau. Ich wünschte mir eine Familie – aber auf dieser Basis war das unmöglich, daher begann ich mit der Werbefotografie. Für eine Weile war ich recht erfolgreich, es drehte sich aber alles nur darum, die Rechnungen zu bezahlen und neue Aufträge an Land zu ziehen. Vor fünf oder sechs Jahren hörte ich im Grunde genommen mit der Werbefotografie auf. Die Bilder für Before They Pass Away nahm ich in erster Linie für mich selbst auf. Sie bilden das ab, was ich sehe und fühle, das, was ich schön finde. Als Ralph Lauren mich darum bat, die Kampagne zu fotografieren, wurde der Kreis geschlossen. Ich liebe den Stil und die Ästhetik dieses Auftrags von Ralph – sie ähneln stark meinen eigenen Projekten. Eine perfekte Kombination also. 

Sie haben in Finnland mit einer recht großen Crew zusammengearbeitet.
Das war sehr lustig: Als wir an der Vorproduktion saßen, wurde ich gefragt, wie viele Assistenten ich bräuchte. Ich lachte und antwortete, dass ich ohne Assistenten auskäme – ich hatte ja in den letzten vier Jahren alleine gearbeitet. Mein Produzent riet mir, mindestens drei Assistenten anzufordern, da ich sonst nicht erst genommen würde. Also heuerte ich einen professionellen Assistenten und zwei Familienmitglieder an: Meine Frau und meine älteste Tochter. Das war nicht unbedingt ein rein kommerzieller Auftrag, sondern eher eine Zusammenarbeit mit Familienmitgliedern.

Haben Sie Ihren Kindern die Fotografie nahegebracht?
Meine Frau und ich haben sie zu kreativen Menschen erzogen. Aber keiner von ihnen würde sich als Fotograf sehen – ich vermute, das liegt an den Unterschieden zwischen den Generationen. Meiner Meinung nach gibt es heutzutage keine Fotografen mehr. Es handelt sich vielmehr um visuell Schaffende: mit Film, Fotografie, Schreiben und Kuratierung. Meine drei Kinder verfolgen alle eine kreative Laufbahn, aber keiner von ihnen beschränkt sich ausschließlich auf die Fotografie.

Sie haben 44 Länder besucht. Wo geht es als nächstes hin?
Ich plane, in nächster Zukunft drei Regionen zu bereisen. Eine Reise geht wieder zum Amazonas. Es ist sehr schwierig, in die Amazonasregion zu gelangen, da diese hochgradig geschützt ist. Das ist alles sehr politisch. Ich habe es zuvor bereits erfolglos versucht, wurde nun jedoch von verschiedenen Gruppen eingeladen, sodass ich die Region bereisen kann. Gerne würde ich mehr Zeit in Sibirien verbringen. Auch diese Region wurde aufgrund ihrer Unzugänglichkeit und Größe noch nicht ausführlich fotografisch dokumentiert. Dann möchte ich die pazifischen Inseln besuchen.

In Sibirien muss man auf seine Finger aufpassen. Hingen die Ihren nicht an der Metallplatte in Ihrer Kamera fest, als Sie Fotos für Ihr Buch machten?
Solche Dinge passieren immer. Das Wichtige dabei ist: Nur durch die eigene Verletzlichkeit zeigt man, wer man wirklich ist. Auf der Grundlage von Emotionalität und Fehlbarkeit kann man wunderbar Beziehungen aufbauen.

Passierte bei dem Shooting in Finnland etwas besonders Emotionales?
Ja, in der Tat gab es da so etwas. Ralph Lauren hatte in den letzten Jahren einen festen Fotografenstamm eingesetzt, das hier war ein Experiment. Daher waren alle etwas nervös. Das kann ich gut verstehen: Man investiert viel Zeit und Geld, wenn man eine riesige Crew nach Finnland sendet. Aber zum Abschluss gab es ein Abendessen, bei dem Tränen flossen – freundschaftliche Tränen. Diese zeigten uns, wie menschlich unsere Zusammenarbeit gewesen war. Wir fühlten uns wie eine Familie.

Wie stellen Sie sicher, dass bei einem Fotoshooting die richtige Atmosphäre entsteht – schließlich laufen am Set eine ganze Menge Menschen umher.
Bei Produktionen wie diesen steht der Fotograf oder der Art Director häufig mit Trillerpfeife und Zigarre da und brüllt herum. So arbeite ich nicht. Ich habe mich auch als Requisiteur nützlich gemacht und die Kleidung für die Models gebügelt. Das zeigt doch nur, dass wir alle Menschen sind. Wir sind alle gleich – ich bin nur zufällig derjenige, der die Fotos macht. Zu Beginn spürte ich, dass mein Verhalten auf leichtes Unbehagen stieß, da man an hierarchische Strukturen gewöhnt war. Aber so arbeite ich nun mal nicht. Ich zeige sehr selbstbewusst, was ich will und bin sehr zielstrebig. Wir sollten jedoch versuchen, unsere Ziele auf harmonische und menschliche Weise zu erreichen, ohne auf einem Thron zu sitzen und Befehle zu geben.

Das ist auch ein guter Rat für Nichtfotografen.
Oder auch nicht. Es gibt einige hervorragende Fotografen weltweit, die herumbrüllen und alle unglücklich machen. Am Ende kommt dabei zwar auch Kunst heraus – aber ich möchte lieber, dass Freundschaften daraus entstehen.

Die ehemalige Chefredakteurin von Style.com, NICOLE PHELPS arbeitet heute als Director von VogueRunway.com

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