Locking Horns

1959 gilt als DAS Jahr herausragender Jazz-Aufnahmen. Ein neues Buch beschäftigt sich damit, wie Miles Davis, der sich durch seine Zeit in Paris befreit fühlte, und zwei andere Genies der Musikwelt Musikgeschichte schrieben

Das bedeutendste Jahr in der Geschichte Hollywoods? Manche denken hier an das Jahr 1939, in dem Vom Winde verweht, Der Zauberer von Oz, Ninotchka, Mr. Smith geht nach Washington, und Ringo erschienen. Andere plädieren für 1974 und die große Auswahl an neuen Titeln wie Der Pate Teil II, Chinatown, Der Dialog, und Der wilde wilde Westen. Liebhaber des Broadway-Musicals sehen 1964 (Hello, Dolly!, Anatevka oder Funny Girl) oder 1975 (A Chorus Line, Chicago und The Wiz – Das zauberhafte Land) als das herausragende Jahr. Und Chaos-Fans streiten sich darum, ob 1968 oder 2020 an erster Stelle steht.

<strong class="">Band of Brothers</strong><br/><span class="">Oben (von links nach rechts): John Coltrane, Cannonball Adderley, Miles Davis und Bill Evans 1959 bei den Studioaufnahmen für <em>Kind of Blue</em>; Bild von Davis auf der Bühne; Grafik einer Trompete von einem seiner Alben. Oben: Als Davis Coltrane engagierte (Foto in Paris aufgenommen), war er heroinsüchtig und ein Außenseiter der Jazz-Szene; Evans (rechts) war „nerdig und zurückhaltend“. </span>
Band of Brothers
Oben (von links nach rechts): John Coltrane, Cannonball Adderley, Miles Davis und Bill Evans 1959 bei den Studioaufnahmen für Kind of Blue; Bild von Davis auf der Bühne; Grafik einer Trompete von einem seiner Alben. Oben: Als Davis Coltrane engagierte (Foto in Paris aufgenommen), war er heroinsüchtig und ein Außenseiter der Jazz-Szene; Evans (rechts) war „nerdig und zurückhaltend“.

Über das herausragendste Jahr für Jazz-Aufnahmen streitet keiner. Das war zweifelsohne das Jahr 1959, in dem Dave Brubeck sein Album Time Out herausgab, Charles Mingus Mingus Ah Um, Ornette Coleman The Shape of Jazz to Come, Art Blakey Moanin’, Abbey Lincoln Abbey is Blue und schließlich – und auf keinen Fall zu vergessen – Miles Davis Kind of Blue einspielte. Die meistverkaufte Jazz-LP aller Zeiten ist tatsächlich ein wahres Meisterwerk. Sie ist sowohl zeitlos im herkömmlichen Sinne des Wortes, denn die Aufnahme klingt heute genauso unverbraucht und lebendig wie vor 65 Jahren, doch ebenso in dem Sinne, dass Kind of Blue sich in keine musikalischen Normen der Zeit pressen lässt. Es gibt nichts vergleichbares in Davis' Katalog – oder dem der anderen Koryphäen. Doch natürlich floss das Album dem Trompeter nicht fix und fertig und „einfach so“ aus der Feder, wie Athene der Sage nach dem Kopf des Zeus entsprang. Die Geschichte, wie sich die Innovationen aus den Jazz-Trends der 1950er-Jahre ergaben und wie die Männer, die das Album aufnahmen, zusammenkamen, nachdem sie jahrelang umeinander herumgeschlichen waren und gegen ihre persönlichen Dämonen gekämpft hatten, erzählt James Kaplan mit großer Einsicht und Einfühlungsvermögen in seinem grandiosen neuen Buch 3 Shades of Blue: Miles Davis, John Coltrane, Bill Evans and the Lost Empire of Cool.

Meiner Meinung nach wird dieses Buch über Nacht auf der Hitliste großartiger Bücher über Jazz und der Musik im Allgemeinen landen. Kaplan kennen Sie vielleicht bereits – sollten ihn kennen: als Autor einer hervorragenden zweibändigen Biografie über Frank Sinatra, Frank: The Voice (2010) und Sinatra: The Chairman (2015), die ihn, zusammen mit seinem darauf folgenden Werk, Irving Berlin: New York Genius (2019), in der Szene einen Namen machten. (Ich muss zugeben, dass ich Kaplan vor langer Zeit einmal in der Vanity Fair redigiert habe. Sie sollten mein Lob daher auf Befangenheit sowie Neid auf seine Fähigkeit abklopfen, so anschaulich und verständlich über Musik zu schreiben und gleichzeitig ihre ungreifbare Seele einzufangen – der Grund, warum wir uns überhaupt dafür interessieren.)

„Kind of Blue verhielt sich wie ein Stein, der in einen dunklen See geworfen wird und dessen konzentrische Wellen seine Kraft sanft und lautlos in alle Richtungen ausbreiten.“

Dieses neue Buch ist auf seine ganz eigene Weise bemerkenswert: Es ist kein klassisches „Making of“, sondern lässt sich eher als die Biografie einer ganzen Musikepoche beschreiben. Kaplan beginnt mit Charlie Parkers und Dizzy Gillespies Innovationen, dem so genannten Bebop der Mitte der 1940er-Jahre. Er folgt der Entwicklung der Musik hin zum sogenannten Hard Bop. Die Geschichte erreicht ihren Höhepunkt – endet jedoch nicht – mit Kind of Blue und den bahnbrechenden modalen Improvisationen des Albums. Wie Kaplan schreibt, ist die „ruhige und rätselhafte Erhabenheit [der Platte]... einerseits der Inbegriff des Genres und lässt es andererseits weit hinter sich“. Es ist eine LP, die „bei Musikern und Musikliebhabern aller Kategorien, ob Jazz, Rock, Klassik oder Rap, äußerst beliebt ist.“

Neben Davis sind der Tenorsaxophonist John Coltrane und der Pianist Bill Evans die Hauptpersonen von Kaplans Buch. Die beiden Musiker sind ebenfalls auf der Platte zu hören und trugen wesentlich zu ihrem Erfolg bei. (Auch der Rest der Band kann sich durchaus hören lassen: Altsaxophonist Cannonball Adderley, Bassist Paul Chambers, Schlagzeuger Jimmy Cobb sowie Wynton Kelly, der Evans bei einer Nummer vertritt.) Kaplan sieht es als ein Wunder an, dass seine drei erwählten Musiktalente lange genug lebten, um gemeinsam aufzunehmen, denn als junge Männer waren alle Drei drogenabhängig.

Miles Davis, der als Sohn eines Zahnarztes in East St. Louis aufwuchs, galt als Wunderkind an der Trompete. Bereits mit 18 Jahren spielte er in Billy Eckstines Big Band an der Seite von Parker und Gillespie, wenn die Gruppe in der Stadt auftrat. Er bestand die Aufnahmeprüfung an der renommierten New Yorker Juilliard School, Konservatorium und Schauspielschule, brach sein Studium dort jedoch nach ein paar Monaten ab und trat in seiner ersten festen Anstellung regelmäßig mit Parkers Quintett auf. Bereits 1949 war der junge aufstrebende Star Bandleader und Musik-Künstler.

In diesem Jahr unternahm er auch seine erste Reise nach Paris, die sich als Schlüsselmoment in seinem Leben erweisen sollte. „Europa an sich war eine Offenbarung“, schreibt Kaplan. „Er hatte 23 Jahre lang unter dem Einfluss des amerikanischen Rassismus gelebt. Nun plötzlich und ganz unerwartet war er davon befreit. ‚So hatte ich mich in meinem ganzen Leben noch nie gefühlt’, so Davis. ‚Es war die Freiheit, in Frankreich zu sein und wie ein Mensch behandelt zu werden, wie jemand, der wichtig ist.'“ Außerdem verliebte er sich zum ersten Mal – in die französische Sängerin und Schauspielerin Juliet Gréco, die ihn mit Sartre und Picasso bekannt machte, in persona, nicht nur mit deren Werken. Die Reise dauerte eine Woche, die Affäre ebenso, berauschend, aber kurz. Dennoch scheint sie ihn bis ins tiefste Innere verändert zu haben.

Das Problem war seine Rückkehr nach New York, wo er „wieder als Bürger zweiter Klasse galt, in den Augen des weißen Amerikas einfach nur ein weiterer Neger“ war. Schlimmer noch, er hatte das Gefühl, dass weiße Musiker seinen Stil kopierten, und hatte Probleme, feste Arbeit zu finden. Er verfiel in eine Depression und durchlebte eine, nach seinen Worten, „vierjährige Horrorshow“ als Heroinabhängiger. In der damaligen Zeit, in der so viele Musiker vom vielschichtigen und dabei unberechenbaren Beispiel Parkers geprägt waren, war dies auch ein Berufsrisiko. „Seine Begabung war ‚wie von einem anderen Stern’“, schreibt Kaplan über Parker, „und sein Heroinkonsum so offensichtlich extrem, dass es für junge Musiker, die zu „magischem Denken“ neigen (alle Künstlerinnen und Künstler tun dies), schwer war, hier nicht einen Zusammenhang zu vermuten. Es war für sie kaum vorstellbar, Heroin nicht als den Königsweg zur Beherrschung des Jazz zu sehen.“ Der Heroinkonsum war auch „ein Erkennungszeichen“, wie es ein Musiker ausdrückte, etwas, das eine Gruppe von mehr oder weniger marginalisierten Künstlern verband, ein Identifikationsmerkmal, so traurig das auch klingen mag. Auch Coltrane, der in North Carolina aufwuchs und seine Karriere in Philadelphia begann, und Evans, ein weißer Junge aus New Jersey, der ursprünglich klassisches Klavier studiert hatte, waren der Sucht verfallen.

Mit Mitte 20, tief in seiner Abhängigkeit gefangen, galt Davis als abgeschrieben. Doch als er nach mehreren Fehlversuchen clean war, etablierte er sich erneut als musikalische Kraft und spielte Nummern für Blue Note, Prestige und (ab 1957) Columbia, das größte und einflussreichste Label, ein. Er war ein begnadeter Musiker, der sich als ebenso inspirierender Leader erwies. „Ein bedeutender Teil seiner künstlerischen Begabung war“, erläutert Kaplan, “wie große Maler oder Filmregisseure oder Orchesterdirigenten die Intuition zu wissen, was wohin passt – ob es nun um Farben, Schauspieler oder Töne geht.“ Für einen Bandleader hieß das, dass er genau wusste, wen er engagieren wollte.

<strong class="">Nachtleben</strong><br/><span class=""> In Paris lernte Davis die französische Sängerin Juliette Gréco (oben) kennen, die ihn mit Picasso und Sartre bekannt machte; Charlie Parker (rechts), dessen Genialität „wie von einem anderen Stern“ war, mit seiner Band, zu der damals auch der junge Miles Davis gehörte, bei einem Auftritt im Three Deuces in New York, 1947. </span>
Nachtleben
In Paris lernte Davis die französische Sängerin Juliette Gréco (oben) kennen, die ihn mit Picasso und Sartre bekannt machte; Charlie Parker (rechts), dessen Genialität „wie von einem anderen Stern“ war, mit seiner Band, zu der damals auch der junge Miles Davis gehörte, bei einem Auftritt im Three Deuces in New York, 1947.

Als Coltrane 1955 seinem neuen Chef Davis zum ersten Mal vorspielte, war der sechs Monate jüngere Saxophonist noch ein Junkie und obendrein Alkoholiker. Er hatte brillante Momente bewiesen, sich jedoch immer wieder ins Abseits geschossen. Er war, mit Kaplans Worten, „ein unbeholfener Außenseiter ..., der aus seinem Schlupfwinkel kroch, nachdem er sich die vorherigen zehn Jahre damit beschäftigt hatte, im zwielichtigen Umland des Jazz seinen musikalischen Stil zu finden.“ Davis hörte dieses Suchen und seine Genialität, die in den 1960er-Jahren zu Coltranes eigenen Meisterwerken führen würden. Seine Aufnahme in die Band ist ein Beispiel dafür, dass Davis wusste, was bzw. wer wohin passt: Die authentischen, feurigen und dabei unverzagt erkundenden Soli des Saxophonisten waren das perfekte Gegenstück zu Davis' häufig gedämpftem Spiel, das, wie Kaplan es positiv umschreibt, „Inbrunst und Distanz zugleich vermittelte“. Hier traft Feuer auf Eis, könnte man fast meinen. Nichtsdestotrotz musste Davis Coltrane hinauswerfen und erzwang damit seinen Entzug. Er engagierte ihn erneut, sobald er clean war und sich ganz seiner Kunst widmete.

Evans kam nie ganz vom Heroin weg. Er trat nerdig und zurückhaltend auf, bewusst, ein weißer Mann zu sein, der schwarze Musik spielt. Die Aufnahme seines ersten Albums als Bandleader gelang buchstäblich nur durch einen Trick. Davis mochte die Art, wie sein Spiel vom europäischen Modernismus beeinflusst war, und die beiden Männer fühlten sich durch die gemeinsame Vorliebe für Ravel und Rachmaninoff verbunden. Das war eine der Zutaten für die konzeptionelle Mischung von Kind of Blue. Eine weitere war Davis' kürzliche Entdeckung des afrikanischen Fingerklaviers mit seinen (für westliche Ohren) seltsamen Tonleitern.

<strong class="">Bereit zum Ablichten</strong><br/><span class="">Davis war auch für seinen eleganten Stil bekannt. Er trug zunächst Anzüge von Brooks Brothers, kam mit einem Tuch um den Hals aus Paris zurück. Auf dem Höhepunkt seines Ruhms fuhr er, mit Wildlederhosen bekleidet, einen Ferrari 275 GTB. </span>
Bereit zum Ablichten
Davis war auch für seinen eleganten Stil bekannt. Er trug zunächst Anzüge von Brooks Brothers, kam mit einem Tuch um den Hals aus Paris zurück. Auf dem Höhepunkt seines Ruhms fuhr er, mit Wildlederhosen bekleidet, einen Ferrari 275 GTB.

Mehrere Jahre lang hatten Davis sowie andere Jazzmusiker mit modaler Musik experimentiert. Dabei improvisierten sie über einen einzelnen Akkord und nicht, wie sonst Standard, über eine Reihe von Akkordwechseln. Dies verleiht der Musik eine unendliche, geheimnisvolle Stimmung und macht sie zu einer Geschichte ohne Anfang und Ende, wie Kaplan meint. In Kind of Blue erlebten diese Experimente ihre Blütezeit. (Ein weiteres Album dieser Art war Coltranes My Favourite Things, das zwei Jahre später erschien.) Nicht alle fünf Tracks sind modal, aber für mich ist das ganze Album durchdrungen von dieser unendlichen geheimnisvollen Atmosphäre. Die Musik ist tief empfunden, doch ohne offensichtliche Gefühle zuzulassen. Beim Anhören denke ich an das Erwachen aus einem Traum, den ich einerseits nicht loswerde und an den ich mich andererseits nicht wirklich erinnere.

Kaplans Geschichte hat ein Ende, wenn auch kein dramatisches. Die Aufnahmen, die im Frühjahr 1959 über zwei Termine verteilt waren, verliefen, abgesehen von der dabei gespielten Musik, unauffällig. (Stilanmerkung: Fotos, die im Studio aufgenommen wurden, zeigen Davis leger-elegant in einem Hemd mit einem Krawattentuch oder einem Bandana um den Hals. Es war viel passiert seit seinen Anfängen in New York, als der Saxophonist Dexter Gordon ihn wegen seiner Anzüge von Brooks Brothers lauthals beschimpfte: „Ich kann mich doch nicht mit einem sehen lassen, der sich so komplett bescheuert kleidet wie du.“) Das Album selbst wurde zwar nicht sofort als Meisterwerk anerkannt, jedoch mit Respekt aufgenommen. Hierbei handelte es sich um kein Sacre du Printemps. Der Verkauf lief gut, jedoch nicht großartig. Die Sache war jedoch die, dass sich das Album immer weiter verkaufte, und das tut es auch heute noch – eine Hommage an die „immaterielle Kraft“ von Kind of Blue, wie Kaplan es ausdrückt und hinzufügt, dass die Platte sich „wie ein Stein verhielt, der in einen dunklen See geworfen wurde und dessen konzentrische Wellen seine Kraft sanft und lautlos in alle Richtungen ausbreiten.“

Evans spielte in seinen Linernotes für die LP bereits auf diese Unbeschreibbarkeit an, indem er sie als „Suibokuga“ bezeichnet, einem Improvisationsstil der japanischen Tuschemalerei. „Ausradieren oder Ändern sind nicht möglich … Vorsatz darf das Werk nicht stören“, schrieb Evans. „Den auf diese Weise entstehenden Bildern fehlen zwar die komplexe Komposition und Struktur gewöhnlicher Gemälde, abgesehen davon werden diejenigen, die diese Werke ansprechen, darin etwas finden, das sich jeglicher Erklärung entzieht.“ Das mag wohl zutreffen, aber Kaplans tiefgründige Nachforschungen kommen der Sache doch recht nahe.

Bruce Handy ist Journalist, Essayist und Autor von Kinderbilderbüchern. Am 16. April erscheint sein jüngstes Buch, There Was a Shadow, mit Illustrationen von Lisk Feng.